Christina Natlacen: Passanten im Fokus. Straßenfotografen und Stadtöffentlichkeit
Um 1880 finden zwei bedeutsame Neuerungen des Mediums Fotografie statt, die in Folge auch einen Umbruch des Blick- und Herrschaftsverhältnisses im öffentlichen Raum herbei-führen: die Möglichkeit, Momentaufnahmen von Personen in Bewegung anzufertigen und das Aufkommen der Amateurfotografie. Nun steht es KnipserInnen offen, Bilder des städtischen Alltagslebens zu schießen, die meist vom spontanen Reiz des Zufälligen bestimmt sind. Das Konvolut eines anonymen Wiener Knipsers aus der Zeit um 1890 stellt mit seinen fast ausnahmslos versteckt im öffentlichen Raum aufgenommenen Fotografien ein seltenes Dokument einer Bildpraxis außerhalb des geschützten privaten Kontextes dar und zieht insbesondere Fragen nach einem Wandel der Bedeutung der Anonymität des Individuums in der Öffentlichkeit mit sich. Das ungefragte Fotografiertwerden auf der Straße löst schon bald den Wunsch nach Kontrolle und Normierung aus. Im Zuge des 1895 verabschiedeten Urheberrechtsgesetzes für Fotografie werden zunehmend Persönlichkeitsrechte – man spricht vom „Recht am eigenen Bilde“ – eingefordert. Da Amateuraufnahmen jedoch keiner gesetz-lichen Bewilligung unterliegen, appelliert man an den „Takt des Fotografen“ und versucht, für das „Zwangsverhältnis“ und den „Opferstatus“ zu sensibilisieren.
Ab 1925 gewinnt die Problematik des ungefragten Fotografierens von PassantInnen erneut an Aktualität. Sogenannte Gehfilmfotografen – ein Zweig von Geschäftsamateuren –
machen in Städten Sequenzaufnahmen von auf sie frontal zugehenden Personen und bieten diese mit dem Signum der Authentizität behafteten Bilder zum Verkauf an. Es sind vor allem die Berufsfotografen, die gegenüber dieser „Nötigung, sich zur Schau zu stellen“ Sturm laufen. Durchaus zu Recht, denn diese bei dem Publikum ungeheuer beliebten Straßenfoto-grafien stellen eine ernsthafte Konkurrenz dar. Die BenützerInnen des öffentlichen Raums dulden diesen Eingriff in die Privatsphäre nur allzu gerne, hatten sie doch neben dem Faible für die kinematografische Bildästhetik offensichtlich Interesse an einer Dokumentation ihrer Präsenz auf der Straße und an dieser Form der öffentlichen Inszenierung des Individuums. Anhand dieser zwei Beispiele aus der Geschichte der Amateurfotografie sollen Fragen nach der Erfordernis einer Neudefinition des Begriffs des Privaten im 20. Jahrhundert, nach der Verbindung von Praktiken des öffentlichen Bildermachens mit Diskursen um Persönlichkeitsrechte sowie nach der Rolle dieser Fotografien für die Dargestellten aufgeworfen werden.

 

 

 

 

 


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