Ramón Reichert: Medienamateure und das Video Home System 1985-1990,
1982 einigten sich Gerätehersteller und Softwareproduzenten auf den VHS-Standard (Video-Home-System). In den Folgejahren etablierte sich die Videonutzung in der Alltagskultur von Haushalten mit höheren Einkommen. Die VHS-Medienamateure der 1980er Jahre waren überwiegend männlich. Mit ihren Videokameras und schlichten Schnittprogrammen transformierten sie die visuelle Erinnerungskultur der Familie und stilisierten sich dabei als auktoriale Erzähler familiärer Geschichtsschreibung.
Am Beispiel eines privaten Videotagebuches eines Linzer Medienamateurs, der seine Familie, bestehend aus seiner Frau und seinen zwei Kindern, über einen längeren Zeitraum hinweg – beinahe täglich – filmte, versuche ich, die Verflechtungen zwischen medialem Dispositiv, familiärer Herrschaft und ihrer Subversion aufzuzeigen. Das geschlechtsspezifische Blickregime von Sehen und Gesehen-Werden beschreibt nicht nur den Kino-Apparatus, sondern gleichermaßen die Geschlechterverhältnisse im sozialen Alltag. Das kostengünstige und wieder bespielbare Speichermedium VHS flexibilisierte die Videoüberwachung öffentlicher und privater Räume. Die mehrere hundert Stunden umfassenden Videoaufnahmen zeigen beinahe ausschließlich familiäre Szenen. Als Kameramann und Regisseur fungierte der Vater der Familie. Er zog sich auf die dokumentarische Position eines "unbeteiligten Beobachters" zurück und inszenierte über mehrere Jahre hinweg komplexe Versuchsanordnungen, in denen er seine Familie als "Probanden" instruierte und dabei filmte. Die in den 1980er Jahren vor laufender Kamera sichtbar gemachte Disziplinierung der Kinder, die Einübung normierender Verhaltensweisen und Geschlechterrollen wird von der Familie bis heute als visuelles Archiv familiärer Erinnerungskultur rezipiert. So nutzt der Sohn, ein an der Kunstuniversität Linz tätiger Videokünstler, das Archiv seines Vaters zur Recherche von Found Footage für seine künstlerische Arbeit.
Die "Integrität" der männlichen Beobachterrolle wurde innerhalb der Prozeduren der Videoaufzeichnung bereits Mitte der 1980er Jahre in Frage gestellt. Die heranwachsenden Kinder versuchten allmählich, das vom Vater vorgebene mediale Setting der Videoüberwachung zu dekonstruieren. Sie entwickelten mikropolitische und subversive Taktiken, um das väterliche Blickregime zu durchkreuzen. So lockten sie etwa den Vater vor die Kamera, um sich hinter seinem Rücken der "leerlaufenden" Kamera zu bemächtigen. Sie entwickelten soziale Techniken und Medienkompetenz und rebellierten gegen den Videovoyeurismus des Vaters. Gegen die väterliche Videoüberwachung entwickelten die Kinder Techniken des subversiven Aufbegehrens. Dieses zeigt sich, wenn sie etwa frontal in die Kamera blicken, ihre kindlichen Gesichter in spöttischer Mimik entstellen und mit akrobatischen Körperverrenkungen die Kadrage zu überborden drohen.
Im Unterschied zu früheren Medienformaten und ihren Aufzeichnungspraktiken (Fotografie, Schmalfilm, Super 8) weist die Videopraxis mit der sogenannten "Closed-Circuit"-Anordnung ein medienspezifisches Charakteristikum auf. Eine solche Versuchsanordnung beschreibt eine geschlossene Abbildungssituation, bei der das Aufnahmemedium (die Kamera) direkt mit dem Abbildungsmedium (zum Beispiel einem Fernsehgerät) verbunden ist. In familiären Situationsanordnungen werden die Betrachter/innen selbst in die Darstellungssituation eingebunden. In diesem Zusammenhang können die Mitglieder der Familie ihrem eigenen Abbild gegenübergestellt werden. Die Betrachter/innen machen dabei die Erfahrung der Synchronizität der eigenen Handlungen mit ihrer Abbildung, ähnlich wie im Spiegelbild, jedoch nicht wie gewohnt seitenverkehrt. "Closed-Circuit"-Situationen lösen die Asymmetrien von Beobachten und Beobachtet-Werden auf und ermöglichen neue Prozeduren sozialer Kontrolle und Technologien des Selbst.

 

 

 

 

 


seitenende